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Foto: Reuters/Song

Letztes Jahr im Sommer war es noch ein Scherz, ein kleiner Erdogan-Scherz, und davon gibt es nicht allzu viele. Der türkische Regierungschef berichtete damals in einer Fernsehrunde mit Journalisten von einem Gespräch, das er kurz zuvor mit Wladimir Putin im Kreml hatte. "Sie ziehen uns auf und fragen: 'Was wollen Sie eigentlich in der EU?'", so habe er dem russischen Präsidenten gesagt und fortgesetzt: "Jetzt frotzle ich Sie. Nehmen Sie uns in die Schanghai Fünf auf, und wir werden die EU gleich vergessen." Nice try.

Dieser Tage hat Tayyip Erdogan nicht gescherzt. Die EU wolle kein muslimisches Land aufnehmen, erklärte er in einer Interviewrunde im Nachrichtensender TV24. "Die EU will uns vergessen, aber sie zögert damit, sie kann uns nicht vergessen. Wenn sie es endlich sagen würde, wären wir ruhiger. Soll sie uns doch sagen, dass sie uns weiter warten lassen will, dann kümmern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten." Als Regierungschef von 75 Millionen Türken müsse er sich eben anderweitig umsehen, meinte Erdogan. Dann kam das, was Cengiz Çandar, ein renommierter Kolumnist der liberalen Zeitung "Radikal", Erdogans "geostrategische Bombe" nannte: "Die Schanghai Fünf sind besser, sehr viel mächtiger."

Was die "Schanghai Fünf" sind, darüber gehen die Ansichten im ausgewählten Kreis der Zentralasienexperten seit Jahren auseinander: eine Anti-NATO, ein Klub der Anti-Demokraten, die größte regionale Organisation der Welt – gemessen an der Bevölkerungszahl ihrer Mitglieder -, die sich um Sicherheit und Bekämpfung des Terrorismus sorgt. Jedenfalls heißen sie schon nicht mehr "Schanghai Fünf", seit Usbekistan im Jahr 2001 als sechstes Mitglied dem Bund von Russland, China und drei zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan) beigetreten ist. Korrekt ist Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Die Türkei in der SCO wäre vielleicht eine Art Neuauflage der "Großen Drei" für den Kontinent der Zukunft: Russland und China an einem Tisch mit den Türken, die gern gleich den Patron für die turksprachigen Republiken in Zentralasien spielen wollten.

Çandar, der Kolumnist, empfand Erdogans Worte als aufrichtig. Der Premier habe geredet, wie er empfindet: Frustriert ist er über den Stillstand der Beitrittsverhandlungen mit der EU, ungerecht fühlt er sich behandelt, erniedrigt durch den Umstand, dass ausgerechnet der neue Staat Kroatien, der 2005, zur selben Zeit wie die Türkei, die Verhandlungen mit Brüssel begann, nun in die Union aufgenommen wird. Die Möglichkeit, dass die Türkei in den nächsten Jahren als Alternative zur EU eben der SCO beitreten werde, sei nicht zu unterschätzen, glaubt Çandar. Denn Erdogan wolle sein politisches Wirken ja noch ab 2014 im Amt des Staatschefs verlängern.

Politikexperten sind da etwas vorsichtiger. Selcuk Çolakoglu vom Thinktank USAK in Ankara sieht in den Worten des Regierungschefs in erster Linie eine Reaktion auf den Stillstand mit der EU. Erdogan wüsste sehr genau, wie die Balance in der SCO sei, sagte mir Çolakoglu: Die Russen unterstützten einen Beitritt der Türkei, die Chinesen seien demgegenüber reserviert und hätten andere Vorstellungen. Die Türkei könne vielleicht "Beobachter" in der SCO werden (seit vergangenem Jahr hat sie den Status eine "Dialogpartners", gemeinsam mit Weißrussland und Sri Lanka ...).

Çolakoglu ebenso wie Gerald Knaus, der Leiter der European Stability Initiative in Istanbul (ESI), führen auch den Syrienkrieg als Beispiel dafür an, wie diametral entgegengesetzt die politischen Positionen der Türkei zu denen Chinas und Russlands sein können. Gerald Knaus versteht Erdogans Schanghai-Drohung als Bluff: Der türkische Regierungschef Brüssel ein wenig Angst machen. "Wir können auch anders, wir haben Alternativen", wollte er sagen und Druck machen für die Öffnung neuer Verhandlungskapitel und für den Wegfall des Visazwangs. "Das klingt auch bei den Türken gut." Zwei Drittel von ihnen, so zeigt eine neue Untersuchung des Istanbuler Thinktanks EDAM, haben kein Interesse mehr an der Europäischen Union. (Markus Bernath, derStandard.at, 29.1.2013)